Aristoteles
Nikomachische Ethik, Buch X
Die Tätigkeit des Denkens ist das Höchste in uns und seine Gegenstände sind die Höchsten unter den erkennbaren Dingen.
Ferner: Die betrachtende Tätigkeit ist die kontinuierlichste, da wir eher kontinuierlich betrachten können als irgendeine andere Handlung vollziehen.
Weiter: Wir glauben, dass dem Glück Lust beigemischt sein muss. Unter den Tätigkeiten, die aus Gutheit hervorgehen, ist aber nach übereinstimmender Auffassung diejenige, in der sich die Weisheit betätigt, die lustvollste. Jedenfalls besteht die Meinung, dass die Liebe zur Weisheit Freuden von wunderbarer Reinheit und Dauerhaftigkeit gewährt.
Weiter: Was wir "Autarkie" (Selbstgenügsamkeit, Selbstständigkeit) genannt haben, wird sich wohl am meisten bei der betrachtenden Tätigkeit finden. Denn die lebensnotwendigen Dinge braucht der Weise ebenso wie der Gerechte. Wenn sie aber mit diesen Dingen hinreichend ausgestattet sind, braucht der Gerechte noch Menschen, denen gegenüber und mit denen zusammen er gerecht handeln kann, und dasselbe gilt auch für den Mäßigen, den Tapferen und alle Übrigen. Der Weise hingegen kann auch dann betrachten, wenn er für sich ist, und je weiser er ist, umso mehr. Vielleicht ist es besser, wenn er mit anderen zusammen tätig ist, aber dennoch ist er der am meisten autarke.
Weiter dürfte gelten, dass allein diese Tätigkeit um ihrer selbst willen geliebt wird. Denn nichts entsteht aus ihr außer dem Betrachten, während wir aus anderen Tätigkeiten mehr oder weniger Gewinn haben.
Weiter nimmt man an, dass das Glück in der Muße besteht. Denn wir sind geschäftig, um Muße zu haben, und führen Krieg, um in Frieden zu leben.
Doch darf man nicht denen folgen, die raten, man solle als Mensch an menschliche Dinge denken und als Sterblicher an sterbliche. Vielmehr müssen wir uns, soweit wir es vermögen, unsterblich machen und alles tun, um in Übereinstimmung mit dem Höchsten in uns zu leben. Denn auch wenn dies klein im Umfang ist, überragt es doch alles umso mehr an Vermögen und Wert.
Was einem Lebewesen eigentümlich ist. das ist jeweils für es das Beste und Lustvollste. Für den Menschen ist dies also das Leben in der Betätigung des Denkens, wenn gerade dieses dem Menschen am wesentlichsten ist. Dieses Leben ist daher auch das glücklichste.